Teilhabemöglichkeiten durch heterogenitätssensiblen Einsatz digitaler Medien
Traugott Böttinger & Lea Schulz, 23.09.2022
Beitrag auf der Tagung „Inklusive Medienbildung in einer mediatisierten Welt – Medienpädagogische Perspektiven auf ein interprofessionelles Forschungsfeld“ an der Universität Bielefeld
Der Einsatz digitaler Medien in (inklusiven) Unterrichtssettings in Deutschland ist stark ausbaufähig, wie die ICIL-Studie exemplarisch für den Sekundarstufenbereich gezeigt hat (Eickelmann, Bos & Labusch, 2019). Für den Grundschulbereich wird sogar ein Forschungsdesiderat beschrieben (Autorengruppe Bildungsberichterstattung, 2020). Die Potentiale, die die Lehr-Lern-Forschung (u.a. Bosse, 2018; Irion, 2020) digitalen Medien zuschreibt, werden v.a. im Rahmen eines Unterrichts, der der Heterogenität der Lernenden Rechnung trägt, selten ausgeschöpft: Nur ca. 15% der Lehrkräfte verwenden digitale Medien zur individuellen Förderung, 11% für formative Assessments und 10% zur Zusammenarbeit der Schüler:innen (Autorengruppe Bildungsberichterstattung, 2020, S. 258).
Gleichzeitig treten vor dem Hintergrund ungleicher Bildungschancen Exklusionsrisiken im Kontext von Digitalisierung im Unterricht auf (van Ackeren et al. 2019), wie der Diskussion rund um digitale Spaltung (digital divide bzw. digital gap) (Zorn, Schluchter & Bosse, 2019; Rudolph, 2019; van Essen, 2019) zu entnehmen ist. Der Distanzunterricht hat gezeigt, dass Lernende in einer digitalen Lernumgebung ausgeschlossen werden können: Leistungsschwächere Schüler:innen nehmen seltener am Online-Unterricht teil und ersetzen Lernaktivitäten häufiger durch andere Tätigkeiten (Wößmann et al., 2020). Auch mangelnde digitale Barrierefreiheit stellt ein Problem dar (Bosse, 2021, zit. nach Gyseler & Aellig, 2021). Weiterhin sind u.a. Schüler:innen betroffen, die eingeschränkte Lese- oder Sprachkompetenzen aufweisen, die unzureichend selbstreguliert lernen können, die Schwierigkeiten beim Sehen oder Hören haben oder die der motivationalen Unterstützung durch die Lehrkraft bedürfen (Böttinger & Schulz 2021, S.436f.).
Dem gegenüber stehen Zielsetzungen inklusiver Beschulung: Exklusionsrisiken erkennen und minimieren, Bildungsbarrieren abbauen sowie Lernzugänge schaffen bzw. optimieren. Hier können digitale Medien nicht nur Chancen zur Teilhabe und Partizipation bieten (Liesen & Rummler, 2016), sondern auch beim individualisierten (Petko, 2020, S.54f.; Schaumburg, 2021; Schulz & Böttinger, 2021, S. 54f.) und selbstgesteuerten Lernen (Tulodziecki, Herzig & Gräfe, 2019, S.26) unterstützen sowie im Rahmen adaptiver Lernsettings (Heusinger, 2020) eine wichtige Rolle spielen. Um den genannten Aspekten Rechnung zu tragen, bedarf es medialen Bildungskonzepten unter der Perspektive von Inklusion und Teilhabe.
Vor diesem Hintergrund wird im Vortrag mit dem Universal Design diklusiv ein von den Vortragenden erarbeitetes didaktisch-methodisches Rahmenkonzept vorgestellt, wie digitale Medien heterogenitätssensibel im inklusiven Unterricht eingesetzt werden können, um vielfältige Lernzugänge zu schaffen, Lern-Barrieren abzubauen und es allen Schüler:innen zu ermöglichen, am Lernprozess teilzunehmen. Grundlegend ist hierbei ein weites Inklusionsverständnis, das nicht nur auf sonderpädagogischen Förderbedarf fokussiert, sondern „alle Lernenden in ihren individuellen Bedürfnissen berücksichtigt und u.a. soziale, sozioökonomische und kulturelle Hintergründe, persönlich individuelle Ausgangslagen, Förderbedarfe, Behinderungen, Begabungen und Altersstufen umfasst.“ (Deutsche UNESCO-Kommission, 2021, S. 1f.).
Dazu wurde das Universal Design for Learning (CAST, 2018) für das individualisierte Lernen mit digitalen Medien adaptiert. Im Vortrag werden konkrete digital-inklusive Umsetzungsmöglichkeiten vorgestellt und diskutiert, u.a. Möglichkeiten zur Partizipation am Lerngegenstand bzw. im Unterricht, zur individuellen Förderung im Unterricht sowie zur Gestaltung von Kommunikations- und sozialen Lernprozessen.
Literatur
Ackeren, I. van; Aufenanger, S.; Eickelmann, B.; Friedrich, S.; Kammerl, R.; Knopf, J.; Mayrberger, K.; Scheika, H.; Scheiter, K. & Schiefner-Rohs, M. (2019). Digitalisierung in der Lehrerbildung. Herausforderungen, Entwicklungsfelder und Förderung von Gesamtkonzepten. In Die deutsche Schule (DDS), 111(1), 103-119.
Bosse, I. (2018). Qualitätskriterien für audiovisuelle und digitale Medien für den inklusiven Unterricht – eine Evaluationsstudie des digitalen Angebots Planet Schule. In Zeitschrift für Heilpädagogik, 6, 256-270.
Böttinger, T. & Schulz, L. (2021). Diklusive Lernhilfen – Digital-inklusiver Unterricht im Rahmen des Universal Design for Learning. In Zeitschrift für Heilpädagogik, 9, 436-450.
CAST – Center for Applied Special Technology (2018). Universal Design for Learning Guidelines,
Eickelmann, B., Bos, W., & Labusch, A. (2019). Die Studie ICILs 2018 im Überblick. Zentrale Ergebnisse und mögliche Entwicklungsperspektiven. In B. Eickelmann, W. Bos, J. Gerick, F. Goldhammer, H. Schaumburg, K. Schwippert, M. Senkbeil, & J. Vahrenhold (Hrsg.). ICILS 2018 #Deutschland. Computer- und informationsbezogene Kompetenzen von Schülerinnen und Schülern im zweiten internationalen Vergleich und Kompetenzen im Bereich Computational Thinking. (S. 7–31). Münster/New York: Waxmann.
Essen, F. van (2019). Medienpädagogische Kompetenzen – Digital Disability Divide und Bildungsfachkräfte mit Behinderung. In Medien + Erziehung, 63, 47-54.
Heusinger, M. (2020). Lernprozesse digital unterstützen – ein Methodenbuch für den Unterricht.
Beltz Verlag. Weinheim.
Irion, T. (2020). Digitale Grundbildung in der Grundschule. Grundlegende Bildung in der digital geprägten und gestaltbaren, mediatisierten Welt. In M. Thumel, R. Kammerl & T. Irion (Hrsg.). Digitale Bildung im Grundschulalter. Grundsatzfragen zum Primat des Pädagogischen (S. 49-81). München: Kopaed.
Liesen, C. & Rummler, K. (2016). Digitale Medien und Sonderpädagogik – Eine Auslegeordnung für die interdisziplinäre Verbindung von Medien- und Sonderpädagogik. In Schweizerische Zeitschrift für Heilpädagogik, Jg. 22, 4/2016, 6-12.
Petko, D. (2020). Einführung in die Mediendidaktik – Lehren und Lernen mit digitalen Medien. 2.Auflage. Beltz Verlag. Weinheim/Basel.
Rudolph, S. (2019). Digitale Medien, Partizipation und Ungleichheit – Eine Studie zum sozialen Gebrauch des Internets. Springer Fachmedien. Wiesbaden.
Schaumburg, H. (2021). Personalisiertes Lernen mit digitalen Medien als Herausforderung für die Schulentwicklung: Ein systematischer Forschungsüberblick. In MedienPädagogik: Zeitschrift für Theorie und Praxis der Medienbildung, Themenheft 41, 134–166.
Schulz, L. & Böttinger, T. (2021). Digitale Barrieren abbauen – Das diklusive Universal Design for Learning. In L. Schulz, I. Krtoski, M. Lüneberger & D. Wichmann (Hrsg.). Diklusive Lernwelten – Zeitgemäßes Lernen für alle Schülerinnen und Schüler (S.54-60). Dornstadt: Visual Ink.
Tulodziecki, G., Herzig, B. & Grafe, S. (2019). Medienbildung in Schule und Unterricht. 2.Auflage. Klinkhardt/UTB. Bad Heilbrunn.
Wößmann, L., Freundl, V., Grewenig, E., Lergetporer, P., Werner, K & Zierow, L. (2020). Bildung in der Coronakrise: Wie haben die Schulkinder die Zeit der Schulschließungen verbracht, und welche Bildungsmaßnahmen befürworten die Deutschen? In ifo Schnelldienst, 9/2020, 25-39.
Zorn, I., Schluchter, J.-R. & Bosse, I. (2019). Theoretische Grundlagen inklusiver Medienbildung. In I. Bosse, J.-R. Schluchter & I. Zorn (Hrsg.). Handbuch Inklusion und Medienbildung (S.16-33). Weinheim: Beltz Juventa.
Zitationsvorschlag
Böttinger, T. & Schulz, L. (2021): Das Universal Design for Learning diklusiv als Rahmenmodell im digital-inklusiven Unterricht. Online verfügbar unter http://diklusion.com/2022/09/23/bielefeld2022-udl
Diklusion beschreibt damit die drei Perspektiven der Teilhabe in, an und durch Medien für die Schule und beleuchtet die Chancen und Möglichkeiten des gleichberechtigten Zugangs zu Bildung. Digitale Medien bergen vielfältige Chancen, um im inklusiven Einsatz einen Beitrag zu Individualisierung des Unterrichts zu leisten, sowie die Kooperation und Kommunikation der Lernenden anzuregen und zu unterstützen. Digitale Unterrichtsplanung und -vorbereitung birgt das Potenzial einer besseren Passung des Unterrichts an die diversen Voraussetzungen der Lernenden in inklusiven Settings. Hierfür ist eine digital-inklusive didaktische Unterrichtsplanung und die Initiierung von Unterrichtsprozessen für einen zeitgemäßen Unterricht bedeutsam. Die Ausführungen des Buchs liefern eine Orientierungsgrundlage zur Neukonzeption eines guten diklusiven Unterrichts im Rahmen einer digital-inklusiven Schule.
Die Chancen der Teilhabe durch den Einsatz digitaler Medien lässt sich auf mehreren Ebenen darstellen (vgl. Schulz 2018, S. 347, vgl. Abb. 1).
Ebene 1 (Individuum): Die erste Ebene beschreibt die Optionen der Unterstützung von Lernenden durch Assistive Technologien zur Kompensation einer Beeinträchtigung.
Ebene 2 (Lernebene):Die zweite Ebene beschreibt das Potenzial digitaler Medien für einen individualisierten Unterricht zum Lernen.
Ebene 3 (Lerngruppe):Die dritte Ebene umfasst das digitale kooperative oder kollaborative Lernen in Lerngruppen. Die digitalen Medien stellen hierfür mehr ein Werkzeug dar, dass zur Umsetzung gemeinsamer Wissenskonstruktion eine Verwendung findet.
Ebene 4 (Organisation):Die vierte Ebene wird bei der Betrachtung diklusiven Unterrichts häufig außer Acht gelassen. Sie zeigt auf, wie ein diklusiver Unterricht durch die digitale Vor- und Nachbereitung von Unterricht, durch eine digitale Form der Lernstandserhebung und Diagnostik oder digitale Dokumentation sich an die Lernvoraussetzungen der Lernenden anpasst und gleichzeitig die Lehrkraft entlastet, sich intensiv mit den einzelnen Schüler:innen zu befassen, da automatisierte Tätigkeiten nun durch digitale Medien geleistet werden können.
Ebene 5 (Gesellschaft/Umwelt):Inklusive Medienbildung stellt ebenfalls einen Anknüpfungspunkt an die Gesellschaft dar. Alle Schüler:innen sollen sich in der digitalen Welt orientieren können und haben ein Recht auf gleichberechtigte Teilhabe an dieser. Dazu müssen sie ebenfalls innerhalb von Schule befähigt werden und Medienkompetenzen ausbilden.
Schulz, L. (2018b): Digitale Medien im Bereich Inklusion. In Lütje-Klose, B.; Riecke-Baulecke, T. & Werning, R. (Hrsg.): Basiswissen Lehrerbildung: Inklusion in Schule und Unterricht, Grundlagen in der Sonderpädagogik. Seelze: Klett/Kallmeyer, 344–367.
Im Rahmen des Diskurses über digitale Medien in Schule und Unterricht ist mittlerweile eine Vielzahl an verschiedenen theoretischen Modellen und Kompetenzformulierungen entstanden, die sich aus unterschiedlichen Perspektiven damit beschäftigen, wie digitale Medien im Unterricht eingesetzt werden können, wie sie diesen ergänzen/erweitern können und welche Lerninhalte und -prozesse dabei für Schüler:innen zentral sind.
In diesem Artikel werden einige Modelle beschrieben und hinsichtlich ihrer Relevanz für einen diklusiven Unterricht eingeordnet:
III. SAMR – Grad der technologischen Integration (Puentedura, 2006)
IV. MiLd– Individuelles Lernen digital (Rodemerk & Hambsch, 2019)
V. Fünf-Ebenen-Modellzum Einsatz digitaler Medien im inklusiven Kontext – Lehren und Lernen mit, über und durch Medien (Schulz, 2018)
VI. UDL diklusiv – Das Universal Design for Learning, adaptiert für inklusiv-digitalen Unterricht (Böttinger & Schulz, 2021)
I. 4K: 21st Century skills (P21, 2019)
1.1 Vorstellung des Modells
Die dem 4K-Modell zugrundliegenden Kompetenzen wurden in den USA von der non-profit Organisation P21, die sich Bildung in einem digitalen Kontext zur Aufgabe gemacht hat, unter dem Begriff der 21st Century Skills zusammengestellt (vgl. P21, 2019, o.S.). In Deutschland wurden diese v.a. durch Andreas Schleicher (Koordinator der PISA-Studien bei der OECD) und dessen Vortrag bei der re:publica 2013, einer jährlich in Berlin stattfindenden Konferenz rund um Themen der digitalen Gesellschaft, bekannt gemacht.
Grundfrage des Modells ist, welche Kompetenzen Schüler:innen angesichts globaler Herausforderungen zu vermitteln sind. Als Grundlage dient die Hypothese, das Leben im 21.Jahrhundert habe sich in Richtung einer VUCA-Welt verändert. VUCA steht als Akronym für volatility (Volatilität/Flüchtigkeit), uncertainty (Unsicherheit), complexity (Komplexität) und ambiguity (Mehrdeutigkeit). Mit diesen Schlagwörtern sollen Merkmale der modernen Welt infolge von Globalisierung, Automatisierung und Vernetzung beschrieben werden. Ursprünglich stammt der Begriff aus dem militärischen Bereich, wurde dann aber von Unternehmen und im Bildungsbereich von Hochschulen übernommen und in den Kontext der Digitalisierung übertragen (vgl. Bendel, 2021, o.S.).
Insgesamt werden vier 21st Century Skills formuliert, die im deutschsprachigen Raum als die 4Ks bekannt sind: Kommunikation, Kollaboration, Kreativität und kritisches Denken (u.a. Fadel, Bialik & Trilling, 2017). Die Prämisse lautet: „Wer unter gleichzeitiger Anwendung von zeitgemäßer Kommunikation und Kollaboration, Kreativität und kritischem Denken lernt, erwirbt das notwendige Rüstzeug für die Zukunft“ (Mihajlovic, 2017, o.S.). Ein (schulisches) Lernen, das die 4Ks einbezieht, wird als solide Grundlage angesehen, um Schüler:innen gesellschaftliche Teilhabe in einer zunehmend mediatisierten und digitalisierten Gesellschaft zu ermöglichen. Dabei muss sich auch das Bildungssystem an den digital-technologischen Wandel anpassen.
Kommunikation
Kommunikation beschreibt die Fähigkeit, das eigene Denken, Lernen und Arbeiten mitteilen zu können (vgl. Muuß-Merholz, 2017, o.S.), wobei vor allem der Aufbau authentischer Kommunikationsfähigkeiten im Mittelpunkt steht (vgl. Fadel, Bialik & Trilling, 2017, S.138).
Kommunikation als Kernkompetenz mag Vielen als nichts Neues erscheinen, da es schon immer Teil von Unterricht ist (z.B. Gespräche zwischen Lehrkraft und Schüler:innen oder Peer-Tutoring zwischen Schüler:innen). Allerdings wird dabei die digitale Transformation der Gesellschaft nicht mitgedacht: Sowohl Kommunikation selbst als auch die Anforderungen an gelungene Kommunikation haben sich deutlich verändert (Mihajlovic, 2017, o.S.) und Schulen stehen vor der Aufgabe, digitale Kommunikation in das schulische Lernen zu integrieren. Dies kann am Beispiel des digitalen Schreibens in sozialen Medien (die mittlerweile selbstverständlich zur Lebenswelt der Schüler:innen gehören, wie die Mediennutzungsforschung mehrfach bestätigt hat, u.a. in der ICIL-Studie von Eickelmann et al., 2019) verdeutlicht werden: Posts oder Tweets haben eine eigene Dynamik bzw. folgen eigenen Regeln, z.B. bezüglich des Umfangs (140 Zeichen auf Twitter), des sprachlichen Duktus (Emoticons, GIFs, Abkürzungen etc.) oder der Verknüpfung untereinander (z.B. Retweets, Likes, Followers). Zudem hat sich der Kommunikationsradius deutlich erweitert, es werden auch unbekannte Personen erreicht. Damit verbunden steigt die Menge an digitaler Kommunikation sowie die Gefahr von Überforderung, von Filterblasen und damit von einseitigem Informationszugang (vgl. Mihajlovic, 2017, o.S.).
Kollaboration
Kollaboration beschreibt die Fähigkeit, mit anderen zusammen denken, lernen und arbeiten zu können (vgl. Muuß-Merholz, 2017, o.S.), wobei von einer deutlich intensiveren und zeitlich längeren Zusammenarbeit als z.B. beim Peer-Tutoring ausgegangen wird.
Ähnlich wie im Bereich der Kommunikation wurde in der Schule schon immer kollaboriert, z.B. in Form von Referaten oder Projekten. Allerdings bringen digitale Medien auch hier veränderte Anforderungen und Möglichkeiten mit sich (vgl. Mihajlovic, 2017, o.S.):
Zeit- und ortsunabhängige sowie gleichzeitige Bearbeitung von Dokumenten durch alle Beteiligten.
Zeit- und ortsunabhängige Bewertung von Inhalten und Ideen sowie Geben von Feedback durch und für alle am Prozess Beteiligten.
Alle Beteiligten (und eben nicht nur extrovertierte/redestarke Schüler:innen) können zu Wort kommen.
Multimediale Informationen/Inhalte können in Form von Audio-, Video-, Bild- oder Text-Dateien geteilt bzw. in den Arbeitsprozess eingebracht werden. Dadurch wird die Zugänglichkeit zu den Lerninhalten erhöht und die Ergebnisse können vielfältiger gestaltet werden.
Kritisches Denken
Kritisches Denken beschreibt die Fähigkeit, selbst denken, lernen und arbeiten zu können (vgl. Muuß-Merholz, 2017, o.S.). Darunter fallen verschiedene Sub-Kompetenzen wie Selbstreflexion, mehrperspektivische Betrachtungen, das Sammeln, Bewerten und Gewichten von Informationen oder die eigene Meinungsbildung.
Insgesamt beschreibt kritisches Denken „die Kunst der Beurteilung, das Auseinanderhalten von Annahmen und Tatsachen oder das Infragestellen von Argumenten und Interpretationen von Sachverhalten (Wohlrapp, 2008, S. 213, zit. nach Jahn, 2013, S.2). Oder wie es Lisa Rosa (2014) ausdrückt: „Kritisches Denken erschöpft sich nicht darin, die Informationen von Wikipedia infrage zu stellen, „weil Wikipedia so unsicher ist“, und lieber zum Buch zu greifen, weil es stattdessen das „gesicherte Wissen“ enthielte. […] Jeder muss selbst so weit denken lernen, dass er seinem eigenen Denken vertrauen und misstrauen kann und sich seine eigenen vertrauten Autoritäten wählen und wieder abwählen kann.“ (Rosa 2014, o.S.)
Im Zusammenhang mit digitalen Medien bzw. digitaler Transformation formulieren einige Autor:innen (u.a. Mihajlovic, 2017; Rosa, 2017) eine Erweiterung kritischer Denkkompetenz: „Wer keine „(Neue)Medienkompetenz“ hat, der hatte vielleicht die historisch-konkrete Form kritischer Denkkompetenz mit dem alten Leitmedium (Buchdruck), die noch weit in das zweite Hälfte des 20.Jahrhunderts reichte – aber nicht mehr diejenige für das 21. Jahrhundert“ (Rosa, 2017, o.S.).
Wie Jahn (2013) darlegt, können digitale Medien beim Aufbau eines kritischen Denkens vielfältig unterstützen: Filme oder Web-Quests mit vielfältigen Online-Quellen können Impulse für das Nachdenken setzen, Methoden wie Mindmapping, Placemat oder flexibel einsetzbares (Audio-)Feedback können beim Protokollieren von Arbeitsfortschritten helfen und Denkprozesse sichtbar und der Verbalisierung zugänglich machen.
Kreativität
Kreativität bezeichnet die Fähigkeit, Neues zu denken, zu lernen und zu arbeiten (vgl. Muuß-Merholz, 2017, o.S.). Dabei muss das Neue lediglich für den Lernenden neu sein, womit es sich in gewisser Weise einer Bewertung von außen entzieht. Digitale Medien vergrößern hier die Anzahl möglicher Lösungswege, erhöhen die unterschiedlichen Zugangsarten und Umsetzungsmöglichkeiten einer Aufgabe und schaffen so Raum für Kreativität. Digitale Medien können auch selbst Ausgangspunkt für kreatives Denken, Lernen und Arbeiten sein.
Zusammenhänge zwischen den Kompetenzen
Die vier beschriebenen Kompetenzen sind nur in wenigen Fällen trennscharf und monoperspektivisch zu betrachten. Vielmehr bestehen vielfältige Verknüpfungen und multiperspektivische Interpretationsmöglichkeiten. So reicht Kreativität allein (zunächst unabhängig davon, ob mit oder ohne digitale Medien) häufig nicht aus, um z.B. eine Projektarbeit zu vollenden. Ebenso braucht es Kommunikation, Kollaboration und kritisches Denken, um gemeinsam Wissen durch Ausprobieren und experimentelles Handeln in neue Zusammenhänge übertragen zu können (vgl. Mihajlovic, 2017, o.S.).
1.2 Kritik am 4K-Modell
Das 4K-Modell sieht sich der Kritik ausgesetzt, durch die sehr weit gefassten Kompetenz-Formulierungen Konzernen oberflächliche Argumente für die Bewerbung von beispielsweise Apps, die vorgeben, ebendiese zu fördern, zu bieten (vgl. Füller, 2018, o.S.; Tweet auf Twitter als Antwort auf eine Werbung der App Swift Playgrounds, die Schüler:innen kritisches Denken vermitteln soll). Allerdings stehen der Auffassung von Füller auch Stimmen gegenüber, die für eine Trennung der Inhalte des 4K-Modells und der nachträglichen Verwendung durch andere plädieren (siehe Antworten auf den Tweet). Generell ist hier die grundsätzliche Frage angesprochen, inwieweit Wirtschaftsorganisationen an der Formulierung von Lehr-Lern-Modellen beteiligt sein sollen. Hier mahnt Rosa (2014) dazu, nicht die neoliberalen Vorstellungen von Effizienz zu befolgen und die vier Kompetenzen quasi im Vorbeigehen zu vermitteln. Vielmehr müsse Zeit reserviert werden „für wissensbildendes 4K-Lernen, und davon immer mehr“ (Rosa, 2014, o.S.).
Inhaltlich gesehen kritisiert Stocker (2020), dass eher von 5K als von 4K gesprochen werden müsste, da die Dimension des komplexen Denkens nicht berücksichtigt werde. Diese sei aber aufgrund der Verschränkung der globalen und gesellschaftlichen Herausforderungen essentiell. Gleiches gilt für die Bereiche der Bildung zur nachhaltigen Entwicklung (BNE) und Naturbezogene Umweltbildung (NUB) (vgl. Stocker, 2020, o.S.).
1.3 Der Bezug des Modells zur Diklusion
Welchen Beitrag kann das 4K-Modell für die Planung, Durchführung und Reflexion eines digital-inklusiven Unterrichts leisten?
Betonung einer ganzheitlichen Sicht auf Lernen Schulisches Lernen ist häufig stark auf dessen kognitive Komponente fokussiert. Zwar ist inklusiver Unterricht in verstärktem Maße darum bemüht, ganzheitliches Lernen zu ermöglichen. Allerdings kann es durch eine starke Individualisierung als Reaktion auf eine sehr heterogene Schülerschaft dazu kommen, dass die soziale Komponente des Lernens vernachlässigt wird und – sehr vereinfacht ausgedrückt – jede/r Schüler:in in Einzelarbeit seine eigenen Lerninhalte bearbeitet. Hier hilft das 4K-Modell, bedeutsame Kompetenzen (v.a. Kommunikation und Kollaboration) nicht aus den Augen zu verlieren.
Anstoß zur Reflexion über und zur Weiterentwicklung des eigenen Unterrichts Das 4K-Modell kann als Impuls verstanden werden, zu reflektieren, ob bzw. inwieweit Aspekte der vier Kompetenzen bereits mitgedacht bzw. umgesetzt werden. Dabei sorgt ein stärkerer Einbezug von Kommunikation, Kollaboration, kritischem Denken und Kreativität fast zwangsläufig für eine Öffnung des Unterrichts und zum Einsatz von Methoden, die auch in einem inklusiv-digitalem Unterricht zum Einsatz kommen können.
Unterstützungsmöglichkeiten digitaler Medien im Kontext der 4K Digitale Medien bergen vielfältige Potentiale, um die Entwicklung der 4K bei Schüler:innen anzubahnen und zu unterstützen. Gerade für die Bereiche Kommunikation und Kooperation finden sich zahlreiche Beispiele wie das Erarbeiten von Hintergrundinformationen zur kognitiven Aktivierung durch z.B. kollaboratives Sammeln von Vorwissen und Begriffen oder das Bereitstellen von Unterstützung in verschiedenen Kommunikationsbereichen durch z.B. das Aufnehmen einer Audiodatei (vgl. Böttinger & Schulz, 2021, S.447).
II. Bildung in der digitalen Welt – Kompetenzbereiche der KMK (2016/17)
2.1 Vorstellung der Strategie
Mit ihrer Strategie „Bildung in der digitalen Welt“ legt die Kultusministerkonferenz (KMK) ein Kompetenzraster für digitale Bildung vor. Ziel im schulischen Bereich ist, dass allen Schüler:innen, die im Schuljahr 2018/19 eingeschult werden oder in die Sekundarstufe kommen, diese Kompetenzen vermittelt werden (vgl. KMK 2017, S.19). Die Frage nach der Notwendigkeit der Kompetenzformulierung beantwortet die KMK auf eine ähnliche Weise wie die Autor:innen des 4K-Modells: Die zunehmende Digitalisierung betreffe alle Lebensbereiche und führe zu einem tiefgreifenden Wandel des Alltags der Menschen sowie der Kommunikations- und Arbeitsabläufe (vgl. ebd., S.8). Bildung in der digitalen Welt wird als ein übergreifendes Querschnittsthema aufgefasst und die einzelnen Bundesländer sind aufgefordert, die Kompetenzbereiche verpflichtend als „integrative[n] Teil der Fachcurricula aller Fächer“ (ebd., S.12) zu verankern. Da jedes Fach einen spezifischen Zugang zu den jeweils notwendigen digitalen Kompetenzen hat, entstehen so vielfältige Erfahrungs- und Lernmöglichkeiten, die zum überfachlichen Kompetenzerwerb genutzt werden können. Inhaltlich sind die Kompetenzbereiche nicht auf spezifische Techniken oder bestimmte Technologien ausgerichtet, sondern zielen „auf Handlungsprozesse in Bildungs- und Lebenssituationen in der digital geprägten und gestaltbaren Welt ab, die eine hohe Anschlussfähigkeit an Kompetenzen für die mediatisierte Welt aufweisen“ (Irion 2020, S.68). Insgesamt werden sechs Kompetenzbereiche mit entsprechenden Subkompetenzen ausgearbeitet (siehe Abbildung 2):
2.2 Kritik an der KMK-Strategie
Einerseits hat die KMK-Strategie seit ihrer Veröffentlichung viel Zustimmung und Unterstützung erfahren. Exemplarisch soll hier aus der Stellungnahme der Gesellschaft für Informatik (GI), genauer gesagt des Fachbereichs Informatik und Ausbildung/Didaktik der Informatik, zitiert werden: „Es ist sehr zu begrüßen, dass sich die KMK angesichts der digitalen Transformation von Gesellschaft, Kultur und Arbeit dem Thema ‚Bildung in der digitalen Welt‘ und den daraus resultierenden Konsequenzen für das nationale Bildungssystem in einem Strategiepapier widmet und dieses bereits in Fachgesprächen mit Fachvertreter/-innen in Berlin diskutierte.“ (Brinda 2016, S.1).
Andererseits wurde die Strategie auch deutlich kritisiert, wobei v.a. die verwendeten Begrifflichkeiten und die inhaltliche Ausrichtung Anlass für Kritik bieten. So betont die Gesellschaft für Medienpädagogik und Kommunikationskultur (GMK) die Problematik des Begriffs „digitale Welt“. Zum einen, da suggeriert werde, Welt bzw. Gesellschaft sei nun rein digital. Zum anderen, da der Begriff an sich sehr unbestimmt bliebe (vgl. GMK 2016, S.1). Brinda (2016) verweist darauf, dass die vorgenommene Beschreibung der digitalen Welt (v.a. persönliche und in Schule oder Beruf vorhandene digitale Technologien/Systeme) nur einen sehr begrenzen Ausschnitt enthält. Als Empfehlung formuliert der Autor eine deutliche Erweiterung der Beschreibung (vgl. Brinda 2016, S.2).
Aufgrund der unscharfen Begriffsdefinitionen bewertet die GMK auch das Kompetenzmodell kritisch: Das Kompetenzmodell „entbehrt insofern einer stringenten theoretischen Begründung, in der dargelegt werden müsste, was die digitale Welt ist, welche Prozesse und Strukturen dort zu beobachten sind, was daran neu ist […] und welche notwendigen Kompetenzen sich aus so einer Analyse ergeben“ (GMK 2016, S.1f.).
Im Vergleich mit der KMK-Empfehlung „Medienbildung in der Schule“ von 2012 erkennt z.B. die von Sven Kommer mitbegründete Initiative „Keine Bildung ohne Medien“ (KBoM) in Teilen eher einen Rückschritt: Es fehlen die 2012 enthaltenen Bereiche der kulturellen, der politischen Medienbildung sowie der Identitätsbildung und Persönlichkeitsentwicklung. Zusätzlich kommt der Bereich des Lernens über Medien deutlich zu kurz (vgl. KBoM 2016, o.S.).
2.3 Bezug der Strategie zur Diklusion
Die KMK formuliert in Ihrer Strategie digitale Kompetenzen für Schüler:innen, die zunächst einmal fachunabhängig gültig sind und auf eine aktive Teilhabe in einer digitalisierten Gesellschaft vorbereiten sollen. Hieraus ergeben sich Anknüpfungspunkte für einen diklusiven Unterricht. Zum einen überschneidet sich die Zielsetzung der KMK mit dem Vorhaben der Diklusion, im Rahmen des weiten Inklusionsbegriffs der UNESCO (2014; S.9) inklusiven Unterricht mit digitalen Medien zu unterstützen bzw. zu gestalten, um Teilhabe und Partizipationsmöglichkeiten zu erhöhen. Gleichzeitig ist an dieser Stelle kritisch anzumerken, dass sich der Bereich des individuellen Lernens in den KMK-Kompetenzen kaum niederschlägt (siehe oben). Zum anderen können die einzelnen Kompetenzbereiche als Orientierung für den Einsatz digitaler Medien im Unterricht und dessen Reflexion genutzt werden (was sollen Schüler:innen durch den Einsatz digitaler Medien lernen?). Hier ist es notwendig, die KMK-Kompetenzen zu spezifizieren, um beispielsweise die Bereiche Identitätsbildung und Persönlichkeitsentwicklung im inklusiven Kontext zu ergänzen. Gleichzeitig bietet sich die Möglichkeit, auf Unterstützungsmöglichkeiten für Schüler:innen zurückzugreifen, die deren Lernvoraussetzungen und Bedürfnissen berücksichtigen. Kompetenzbereich II (Kommunizieren & Kooperieren) beispielsweise formuliert unter Punkt „2.1 Interagieren“ den Anspruch, digitale Kommunikationsmöglichkeiten zielgerichtet und situationsgerecht auswählen zu können. In einem diklusiven Unterricht wäre in einem nächsten Schritt nun angezeigt, diese Kommunikationsmöglichkeiten auf die einzelnen Schüler:innen (bzw. deren Lernvoraussetzungen) zu beziehen, um aktive Teilhabe am Unterricht zu sichern. Die Bandbreite reicht dabei von assistiven Technologien über Sprachausgabe und Screenreader-Software bis hin zu spezifischen Hilfestellungen beim Erstellen von Antworten oder Lösungen.
III. SAMR – Grad der technologischen Integration (Puentedura, 2006)
3.1 Vorstellung des Modells
Das im Jahr 2006 von Puentedura erarbeitete SAMR-Modell (siehe Abbildung 3) kann dabei helfen, die Frage zu beantworten, wie sich Lernen und Unterrichtspraxis durch den Einsatz von Technologien bzw. digitalen Medien verändern.
Unterschieden werden vier Ebenen, die in ihrer Komplexität zunehmen: Substitution (Ersetzung), Augmentation (Erweiterung), Modification (Änderung) und Redefinition (Neubelegung) (vgl. Puentedura, 2012, o. S. bzw. Wilke, 2016, o. S. für die deutsche Übersetzung).
Werden analoge Medien durch digitale Medien substituiert (Ebene 1), ändert sich nur die Repräsentation bzw. das Medium wird ersetzt, ohne dass sich funktionelle oder methodische Änderungen ergeben. Ein Lesetext wird beispielsweise auf dem Tablet anstatt im Schulbuch gelesen. Auf der zweiten Ebene (Augmentation) bringt der digitale Medieneinsatz funktionelle Verbesserungen und eine Erweiterung der interaktiven Handlungsmöglichkeiten mit sich: Durch multimediale Links (z.B. QR-Codes) oder Erklärvideos können verschiedene Sinneskanäle angesprochen werden, Onlinewörterbücher oder Rechtschreibhilfen unterstützen das Verfassen von Texten, blinde Schüler:innen können sich Texte vorlesen lassen oder Kinder mit Sehbeeinträchtigungen Schriftgröße und Kontrast eines Textes am Bildschirm anpassen. Die Modifikation (Ebene 3) ermöglicht durch aktive Einbindung der Nutzer:innen eine weitreichende Um- bzw. Neugestaltung von Aufgaben. Durch eigene digitale Medienproduktion kann ein Lesetext beispielsweise als Podcast aufgenommen und interpretiert oder ein Blogeintrag mit selbst verfassten Texten zum Thema erstellt werden. Im Rahmen der Redefinition schließlich werden Elemente der zweiten und dritten Ebene zu neuartigen Aufgabenstellungen kombiniert, die ohne den Einsatz digitaler Technologien nicht möglich wären. Denkbar wäre (um beim Beispiel des Lesetextes zu bleiben), ein E-Portfolio mit den zum Lesetext erarbeiteten Lernprodukten zu erstellen und dieses mit Hilfe eines Erklärvideos zu präsentieren. Je nach digitalem Kompetenzniveau kann dabei über das Einbinden von interaktiven Elementen, zusätzlichen Informationen oder Quiz- bzw. Wiederholungsfragen mit Hilfe von H5P nachgedacht werden. Lehrkraft und Mitschüler:innen geben Feedback zum E-Portfolio und können aus verschiedenen Audio-, Schrift- oder Videoformen wählen. Nach Einarbeitung des Feedbacks wird das E-Portfolio schließlich als E-Book finalisiert. Dabei kann auch der Arbeits- und Entstehungsprozess auf vielfältige Art dargestellt werden.
Insgesamt geht das Modell davon aus, dass der pädagogische Nutzen digitaler Medien mit jeder Stufe des Modells steigt. Zusammengefasst bietet das Modell Lehrkräften verschiedene Ansätze zum Einsatz digitaler Medien im Unterricht:
Darstellung von Integrationsmöglichkeiten digitaler Medien in den Unterricht
Beschreibung, wie digitale Medien Aufgabenstellungen und Bearbeitungswege positiv unterstützen können
Möglichkeit für Lehrkräfte zur Reflexion: Auf welcher Ebene lässt sich der Einsatz digitaler Medien im eigenen Unterricht verorten? Wo gibt es Entwicklungsmöglichkeiten?
3.2 Kritik am SAMR-Modell
Schöngarth (2019) fasst die Kritik von Hamilton, Rosenberg & Akcaoglu (2016) zusammen und formuliert drei zentrale Kritikpunkte: Kontext, Taxonomie und Produkt vs. Prozess (vgl. Schöngarth 2019, o.S.):
Fehlende Berücksichtigung des konkreten Kontextes in Schulen bzw. im Unterricht: „Because SAMR does not acknowledge aspects of context, attempts to connect the SAMR model to […] teaching practice may be a challenge (Hamilton, Rosenberg & Akcaoglu 2016, S.439). Als Beispiel dient eine Lehrkraft, die digitale Medien in ihren Unterricht integriert, aber nur wenige Computer im Klassenzimmer zur Verfügung hat. Auch wenn die digitalen Medien auf höchster Ebene (Redefinition) eingesetzt werden, droht der Einsatz dennoch wenig erfolgsversprechend zu werden, da sich ca. 10 Schüler:innen einen PC teilen müssen (vgl. Schöngarth 2019, o. S.).
Vorgabe einer Taxonomie: „As a taxonomy, the SAMR model represents the idea, that teachers use technology more effectively, when they enact modification or redefinition, rather than substitution or augmentation” (Hamilton, Rosenberg & Akcaoglu 2016, S.439). Damit wird in gewisser Weise suggeriert, die Ebenen Modification und Redefinition seien den anderen Ebenen per se überlegen und deshalb grundlegend anzustreben. Dadurch würde eher eine lineare und eben nicht dynamische Sichtweise vertreten: „Therefore such taxonomies, as is the case with the SAMR model, are deterministic and linear, and are often in direct contrast with the dynamic processes they seek to represent” (ebd., S.440).
Produkt vs. Prozess: Durch die bereits angesprochene, zumindest implizit vorgegebene Taxonomie sowie die Fokussierung auf ein fertiges Lernprodukt wird kritisiert, dass „Lernprozesse hier nur dem Anschein nach auf einer höheren Ebene stattfinden, der Lernprozess allerdings darunter leidet“ (Schöngarth 2019, o. S.).
Zudem ist der Grad des Einbezugs der Schüler:innen nicht gezwungenermaßen von der jeweiligen Ebene des SAMR-Modells abhängig, auch wenn die Taxonomie dies suggeriert. Die Selbsttätigkeit der Schüler:innen ist maßgeblich von der didaktischen Planung der Lehrkraft geprägt und kann auch „schon“ auf Ebene der Substitution selbsttätiges Lernen enthalten. Offen formulierte Aufgaben, die das selbstentdeckende Lernen unterstützen (z.B. Fermi-Aufgaben), können durchaus nur mit einem Textverarbeitungsprogramm auf einem Computer bearbeitet bzw. dokumentiert werden (Substitution) und dennoch die Eigentätigkeit der Lernenden fordern.
Weiterentwicklung des Modells
Stevens (2015) greift die oben genannten Kritikpunkte auf und weist v.a. darauf hin, dass digitales Lernen nicht nur im Bereich über der gestrichelten Linie des Modells stattfinden kann bzw. in der Unterrichtspraxis auf Dauer unmöglich oder unrealistisch ist. Vielmehr müssen Lehrkräfte je nach Bedarf auf allen Stufen des Modells ansetzen (hier greift sie die Taxonomie von Bloom auf), weshalb Stevens das Bild eines Swimming Pools wählt (siehe Abbildung 4): Im Nichtschwimmerbereich finden sich Substitution und Augmentation, im tieferen Teil des Pools Modification und Redefinition. Allerdings gibt es keine Trennlinie zwischen Schwimmer- und Nichtschwimmerbereich, Lehrkräfte sind vielmehr aufgerufen, ihre Runden im gesamten Pool zu ziehen (vgl. Stevens 2015, o.S.)
Wer mehr über die Weiterentwicklung von Stevens wissen möchte: Auf Youtube hat Stevens ein Video veröffentlicht, in dem sie ihre Ideen verdeutlicht:
3.3 Bezug des Modells zur Diklusion
Die vier Ebenen des Modells zeigen anschaulich auf, welche Einsatzmöglichkeiten digitaler Medien in einem diklusiven Unterricht vorhanden sind. Lehrkräfte können hier Ideen sammeln, wie digitale Medien bzw. entsprechende Aufgabenstellungen gestaltet werden können. Dabei erweist sich vor allem die Weiterentwicklung durch Stevens (2015) als anschlussfähig an das Konzept der Diklusion. Digitaler Medieneinsatz muss nicht nur auf Ebene der Modification oder Redefinition stattfinden oder Mittel zum Zweck sein. Vielmehr geht es in einem diklusiven Unterricht darum, alle Schüler:innen in ihrem Lernprozess zu unterstützen – durch einen zielgerichteten und auf die individuellen Lernvoraussetzungen und Bedürfnisse abgestimmten Einsatz digitaler Medien. Manchmal ist es z.B. erst die Modification, die einen Zugang zum Lernen schafft. Um im Bild zu bleiben: Jede/r schwimmt dort, wo es für ihn möglich und für den weiteren Verlauf des Lernprozesses sinnvoll ist. Hier ist es Aufgabe der Lehrkraft, eine optimale Passung in Bezug auf die individuellen Bedürfnisse und Lernvoraussetzungen der Schüler:innen zu initiieren.
IV. MiLd – Individuelles Lernen digital (Rodemerk & Hambsch, 2019)
4.1 Vorstellung des Modells
Das Modell individuelles Lernen digital (MiLd) von Rodemerk & Hambsch (2019) versucht sich an einer konkreten und direkt im Unterricht einsetzbaren Darstellung, wie digitale Medien genutzt werden können, um individuelle Lernprozesse zu fördern und die Tiefenstruktur von Unterricht zu gestalten. Es werden – v.a. auf Basis der Effektstärken der Hattie-Studie – drei große Handlungsfelder differenziert, die untereinander verknüpft sind: konstruktive Unterstützung, Klassenorganisation und kognitive Aktivierung (vgl. Rodemerk & Hambsch 2019, o.S.):
konstruktiv-kognitive Unterstützung wird dabei als Ausgangspunkt individueller Förderung gesehen und in die Subkategorien formative Evaluation, Selbsteinschätzung und Reflexion des Lernprozesses sowie Feedback unterteilt.
Klassenorganisation ist als unabhängiger Gelingensfaktor individueller Förderung definiert und soll Freiräume für deren Umsetzung schaffen (unterteilt in Kommunikation, Organisation und Klassenorganisation).
Kognitive Aktivierung als eine Zieldimension von Unterricht soll nach den Grundsätzen individueller Förderung ausgerichtet werden und Binnendifferenzierung, alternative Lehr- und Lernformen sowie die Förderung von 21st-century-skills (siehe auch 4K-Modell) berücksichtigen.
Für alle Subkategorien listet das Modell verschiedene Apps zur Anwendung im Unterricht auf. Ein Beispiel: Im Handlungsfeld kognitive Aktivierung findet sich die Unterkategorie der kooperativen Lernformen (Effektstärke nach Hattie: d = 0.41). Der Beitrag der Apps im konkreten unterrichtlichen Handeln wird mit Fördern der Zusammenarbeit, Projektarbeit und think-pair-share beschrieben, konkrete App-Beispiele sind Padlet, Cryptpad oder Book Creator (vgl. ebd.).
Die drei Handlungsfelder sind dabei immer vor dem Hintergrund der jeweiligen Unterrichtssituation zu sehen, d.h. der Einsatz digitaler Medien erfolgt immer im Rahmen der Abwägung zwischen Kriterien guten Unterrichts, individueller Förderung und der Aufrechterhaltung der Tiefenstruktur des Unterrichts.
Positiv bewertet wird der Ansatz, bei der Planung des Unterrichts schüler:innenorientiert vorzugehen und auf eine Förderung individueller Lernprozesse abzuzielen. Dabei greift das Modell auf eine grundlegende Anbindung an empirische Forschung (Effektstärken nach Hattie) zurück und bietet eine gute Fundgrube an Apps zur Beantwortung der Frage, welche App für welches Ziel und in welcher Unterrichtssituation sinnvoll eingesetzt werden kann (vgl. Pölert 2019, o.S.).
Allerdings kann das Modell aufgrund seiner Komplexität gerade für Einsteiger überfordernd wirken. Schwerwiegender ist jedoch ein Kritikpunkt, der auch schon für das SAMR-Modell gültig war: Auf die Angabe der Effektstärken folgen Schlagworte zum Beitrag der Apps im Unterricht und schließlich die App-Vorschläge selbst. Hier besteht das Risiko, den Einsatz digitaler Medien linear zu denken. Allerdings führen eine hohe Effektstärke und eine entsprechende App-Auswahl nicht automatisch zu z.B. einer tiefergehenden konstruktiven Unterstützung. Hier wäre ein deutlicherer Hinweis auf den Zusammenhang mit individuellen Lernvoraussetzungen der Schüler:innen und die Bedeutung der didaktischen Funktion eines digitalen Mediums hilfreich gewesen.
4.3 Bezug des Modells zur Diklusion
In inklusiven Unterrichtssettings sind Classroom-Management bzw. Klassenorganisation, die kognitive Aktivierung aller Schüler:innen und konstruktive Unterstützung als Basis individueller Förderung von besonderer Bedeutung. Da genau diese Punkte beim MiLd-Modell im Mittelpunkt stehen, kann es sehr gut für die Planung diklusiven Unterrichts herangezogen werden. Während das UDL diklusiv (vgl. Böttinger & Schulz 2021) keine spezifischen Apps nennt und eher darauf abzielt, Lernzugänge zu ermöglichen, Lernwege aufzuzeigen und Lerninhalte entsprechend aufzubereiten, bietet das MiLd eine breit kategorisierte Auswahl an Apps. Damit stellt es zum einen eine gute Ergänzung dar, kann zum anderen aber auch als eigenständiges Modell Lehrkräfte unterstützen, digitale Medien in ihren Unterricht einzubinden. Dabei müsste das MiLd-Modell durch didaktische Lernszenarien erweitert werden, um es von einer eher grob kategorisierten Tool-Auswahl hin zu einem Modell zu entwickeln, das den konkreten didaktischen Einsatz mit einer Auswahl an technischen Möglichkeiten verbindet.
V. Das Fünf-Ebenenmodell zum Einsatz digitaler Medien im inklusiven Kontext (Schulz, 2018)
Das 5-Ebenen-Modell beschreibt Chancen des Einsatzes digitaler Medien im inklusiven Kontext auf fünf verschiedenen Ebenen:
Gesellschaft/Umwelt: Einsatz digitaler Medien im Alltag (Lernen über Medien)
Organisation: Unterstützung der Lehrenden (Lehren mit Medien)
Lerngruppe: Medien als Werkzeuge im Unterricht (Lernen mit Medien)
Lernebene: Medien als Lernmittel (Lernen mit Medien)
Individuum: assistive Unterstützung (Lernen durch Medien)
Weitere Informationen finden sich auf der Homepage in der Rubrik Diklusives Fünfebenenmodell.
VI. UDL diklusiv – Das Universal Design for Learning, adaptiert für inklusiv-digitalen Unterricht (Böttinger & Schulz, 2021)
An dieser Stelle sei auf zwei Veröffentlichungen verwiesen, die sich mit dem UDL diklusiv, also der Adaption des Universal Design for Learning für inklusiv-digitalen Unterricht beschäftigen:
a) Böttinger, T. & Schulz, L. (2021): Diklusive Lernhilfen. Digital-inklusiver Unterricht im Rahmen des Universal Design for Learning. In Zeitschrift für Heilpädagogik, 9/2021, S.436-450.
b) Schulz, L. & Böttinger, T. (2021): Digitale Barrieren abbauen – Das diklusive Universal Design for Learning. In I. Krstoski, M. Lüneberger, L. Schulz & D. Wichmann (Hrsg.): Diklusive Lernwelten. Dornstadt: Visual Ink. (im Druck).
Böttinger, T. & Schulz, L. (2021): Diklusive Lernhilfen – Digital-inklusiver Unterricht im Rahmen des Universal Design for Learning. In Zeitschrift für Heilpädagogik, 9/2021, S.436-450.
Eickelmann, B., Bos, W., Gerick, J., Goldhammer, F., Schaumburg, H., Schwippert, K., Senkbeil, M. & Vahrenhold, G. (Hrsg.) (2019): ICILS 2018 #Deutschland – Computer- und informationsbezogene Kompetenzen von Schülerinnen und Schülern im zweiten internationalen Vergleich und Kompetenzen im Bereich Computational Thinking. Münster: Waxmann.
Fadel, C., Bialik, M. & Trilling, B. (2017): Die vier Dimensionen der Bildung: Was Schülerinnen und Schüler im 21.Jahrhundert lernen müssen. Hamburg: Verlag ZLL21.
Hamilton, E., Rosenberg J. & Akcaoglu, M. (2016): The Substitution Augmentation Modification Redefinition (SAMR) Model: a Critical Review and Suggestions for its Use. In TechTrends, 60, S.433-441.
Heinen, R. & Kerres, M. (2015). Individuelle Förderung mit digitalen Medien – Handlungsfelder für die systematische, lernförderliche Integration digitaler Medien in Schule und Unterricht. Bertelsmann Stiftung. Gütersloh.
Irion, T. (2020). Digitale Grundbildung in der Grundschule. Grundlegende Bildung in der digital geprägten und gestaltbaren, mediatisierten Welt. In M. Thumel, R. Kammerl & T. Irion (Hrsg.), Digitale Bildung im Grundschulalter. Grundsatzfragen zum Primat des Pädagogischen (S. 49-81). München: Kopaed.
Jahn, D. (2013): Was es heißt, kritisches Denken zu fördern – Ein pragmatischer Beitrag zur Theorie und Didaktik kritischen Nachdenkens. In mediamanual, Nr. 28, Texte 2013, S.1-17. Online verfügbar unter https://www.mediamanual.at/mediamanual/themen/kompetenz.php (30.08.2021)
Schulz, L. & Böttinger, T. (2021): Digitale Barrieren abbauen – Das diklusive Universal Design for Learning. In I. Krstoski, M. Lüneberger, L. Schulz & D. Wichmann (Hrsg.): Diklusive Lernwelten. Dornstadt: Visual Ink. (im Druck).
Böttinger, T. & Schulz, L. (2021): Digitale Modelle und digital-inklusiver Unterricht. Online verfügbar unter www.diklusion.com/diklusion-in-der-schule/digitale-modelle-und-digital-inklusiver-unterricht
In allen Unterrichtssettings, die üblicherweise durch eine breite Heterogenität der Schülerschaft gekennzeichnet sind, ist ein adaptiver und individualisierter Unterricht von Bedeutung, um alle Schüler:innen in ihrem Lernen zu unterstützen. Lehrkräfte stehen vor der Herausforderung, Lernzugänge zu ermöglichen, Lernwege aufzuzeigen und Lerninhalte so aufzubereiten, dass ein Lernen am (möglichst) gleichen Lerngegenstand gelingt. Digitale Medien können hierbei Unterstützung bieten, um Barrieren abzubauen und Lernmöglichkeiten zu eröffnen. In diesem Zusammenhang ist es zielführend, das Universal Design for Learning (CAST, 2018) für den Einsatz digitaler Medien im Unterricht zu adaptieren.
Digitale Medien und individualisiertes Lernen
Im Vorfeld ist zudem die Frage zu klären, warum digitalen Medien zugetraut wird, beim adaptiven und individualisierten Lernen eine Rolle zu spielen.
Von Bedeutung sind vor allem die drei Bereiche Multimedialität, Interaktivität und Adaptivität (vgl. Petko, 2010, S.9). Multimedialität bezieht sich darauf, dass digitale Medien zum einen multimodal beschaffen sind, d.h., sie unterstützen eine parallele Informationsverarbeitung über mehrere Sinneskanäle (v.a. visuell, auditiv). Zum anderen verfügen sie über eine multicodale Darstellung, indem Inhalte über verschiedene Repräsentationsformen (z.B. Video, Animation, Text etc.) vermittelt werden. Interaktive Medien können von Nutzer:innen bezüglich ihrer Präsentation und Interaktion gezielt nach eigenen Absichten gesteuert werden (z.B. über die bewusste Auswahl bestimmter Inhalte). Adaptivität umfasst neben der Makroadaption als Anpassung der digitalen Medien an individuelle Bedürfnisse, z.B. zum Umfang oder zur Darstellung der Inhalte, die Mikroadaption. Diese bezeichnet die automatische Anpassung an verschiedene Inputs, z.B. indem ein Lernprogramm den Schwierigkeitsgrad der Aufgaben selbstständig anpasst – auf Basis bisher bearbeiteter Aufgaben.
Durch die Multimedialität digitaler Medien können also verschiedene Kanäle zur Informationsverarbeitung genutzt werden, um so die Rezeption von Inhalten zu ermöglichen bzw. diese zu vertiefen. Durch die Interaktivität digitaler Medien kann selbstständiges Lernen unterstützt werden, indem Lerninhalte oder Aufgabenformate gezielt ausgewählt werden können, auch auf Basis unmittelbar erfolgender Rückmeldungen an die Nutzer:innen. Durch die Adaptivität digitaler Medien können Zugänglichkeit und Nutzbarkeit erhöht werden, indem z.B. für Menschen mit Sehbeeinträchtigungen spezielle Einstellungen zu Kontrast, Schriftgröße oder Vorlesefunktion vorgenommen werden. Zudem wird durch Mikroadaption die Anpassung der Lerninhalte an die individuellen Lernvoraussetzungen und -fortschritte einzelner Schüler:innen möglich.
Insgesamt können digitale Medien adaptives und individualisiertes Lernen unterstützen – nämlich durch ein Angebot an möglichst passgenauen Aufgabenstellungen und Inhalten mit möglichst optimaler Komplexität. Allerdings soll an dieser Stelle betont werden, dass kein automatischer Zusammenhang mit einer besseren Lernleistung besteht – der Einsatz digitaler Medien allein ist nicht zielführend.
Das Universal Design for Learning
Das Universal Design for Learning (UDL) entstand aus den Ideen des Universal Design, das bereits vor knapp 70 Jahren zum Ziel hatte, das öffentliche Leben möglichst zugänglich zu gestalten und Teilhabe zu ermöglichen. Dazu wurden Prinzipien formuliert, wie Umgebungen, Produkte, Dienstleistungen und vieles mehr ohne weitere Anpassungen verfügbar gemacht werden können (vgl. Pilgrim & Ward, 2017, S. 283).
Das UDL (CAST, 2018) selbst stellt die interindividuellen Unterschiede beim Lernen in den Mittelpunkt und formuliert auf Basis einer Vielzahl an Forschungsstudien neun evidenzbasierte Grundprinzipien mit insgesamt 31 Unterpunkten, um im inklusiven Unterricht Lernbarrieren abzubauen (vgl. Hall, Meyer & Rose, 2012). Vor dem Hintergrund eines weiten Inklusionsverständnisses soll auf differente Lernvoraussetzungen mit dem flexiblen Einsatz von Methoden und Medien reagiert werden. Zum einen, um die Lernmöglichkeiten aller Schüler:innen (und nicht einzelner Gruppen, z.B. mit sonderpädagogischem Förderbedarf) zu vergrößern, zum anderen, um den Unterricht adaptiv an die Lernvoraussetzungen anzupassen. Dahinter steht die Überzeugung, dass alle Lernenden von barrierefreier Unterrichtspraxis profitieren (vgl. Böttinger & Schulz, 2021, i. Vorb.).
Digitale Barrieren abbauen – Das UDL diklusiv
In der schulischen Praxis zeigt sich immer wieder, dass aktuelle Umsetzungen digitaler Lernumgebungen viele Schüler:innen einem Exklusionsrisiko aussetzen bzw. diese kategorisch ausschließen. Dies gilt zum Beispiel für Kinder und Jugendliche, die Unterstützung beim Aufrechterhalten der Motivation oder des selbstregulierten Lernens benötigen, deren Perzeption oder Informationsverarbeitung eingeschränkt ist, oder auch hinsichtlich sprachlicher und kommunikativer Fähigkeiten. Deutlich wird die Notwendigkeit einer digitalen barrierefreien Unterrichtspraxis in Verbindung mit der Chance, der Heterogenität der Schülerschaft begegnen zu können.
Hier kann ein diklusiver (digital-inklusiver) Ansatz als programmatische und systematische Verbindung von digitalen Medien und Inklusion zur Ermöglichung von Teilhabe durch, mit und an Medien in einem digital-inklusiven Unterricht (vgl. Böttinger & Schulz, 2021; Schulz, 2018) hilfreich sein. Im Fokus stehen dabei nicht die technischen Mittel, sondern die Schüler:innen sowie Fragen nach Passung und Anwendung im Unterricht.
Vor diesem Hintergrund wurde das oben beschriebene UDL von den Autor:innen dieses Artikels diklusiv interpretiert und für den Einsatz digitaler Medien im (inklusiven) Unterricht adaptiert. Für die drei Grundsäulen (siehe Tabelle 1) stehen jeweils die Frage nach den Chancen des Lernens mit digitalen Medien sowie nach Umsetzungsmöglichkeiten für digitale Medien im Rahmen des UDL im Fokus (siehe Abbildung 1 sowie PDF).
Auf das Vorstellen konkreter Umsetzungsbeispiele oder das Nennen jeweils passender Apps wird in diesem Artikel verzichtet. Eine solche Sammlung findet sich in unserem Padlet zur Lernförderung mit digitalen Medien, das im Rahmen eines Workshops einer wissenschaftlichen Tagung entstanden ist und fortlaufend erweitert und aktualisiert wird. Sie können das Padlet über die URL oder den QR-Code aufrufen.
URL des Padlets: https://kurzlinks.de/8fp6
Konkrete Einsatzmöglichkeiten des UDL diklusiv
Das UDL diklusiv folgt einem präventiv orientierten didaktischen Grundgedanken: Eine Intervention der Lehrkraft erfolgt nicht erst, wenn im Verlauf einer Unterrichtseinheit konkrete Hilfestellungen benötigt werden. Vielmehr liegt der Fokus von Beginn an auf verschiedenen Voraussetzungen, Zugängen und Bedürfnissen der Schüler:innen sowie unterschiedlichen Lern- und Aufgabenmöglichkeiten. Bereits bei der Planung und Vorbereitung von Einheiten und Einzelstunden sollen mögliche Stolpersteine identifiziert und umgangen werden. Die Leitfrage ist, was den Schüler:innen im Unterricht angeboten werden muss, damit alle erfolgreich teilnehmen und am Lerngegenstand arbeiten können. Dabei ist das UDL diklusiv als eine Art Bausatz zu verstehen: Für die Unterrichtsplanung können bei Bedarf einzelne Elemente bzw. Unterpunkte ausgewählt werden, es müssen aber keinesfalls alle Säulen bzw. Prinzipien berücksichtigt werden. Denn auch im herkömmlichen bzw. “analogen“ Unterricht gibt es Möglichkeiten der Adaption und Individualisierung. Das UDL diklusiv soll einen herkömmlichen Unterricht nicht ersetzen, sondern diesen sinnvoll ergänzen, damit alle Schüler:innen Zugang zu Lerninhalten finden.
Wie ein exemplarischer Einsatz in der Unterrichtspraxis aussehen kann, soll anhand einiger Beispiele verdeutlicht werden (Tabelle 2). Ausgangspunkt ist das in der Grundschule häufig anzutreffende Thema “Schreiben von Fabeln“ im Fach Deutsch. Im Folgenden werden einige mögliche Hilfestellungen aus dem UDL diklusiv näher beschrieben. Diese sind keinesfalls ausschließlich für den Primarbereich gedacht. Gerade in höheren Klassen erlaubt die in der Regel größere Selbstständigkeit der Schüler:innen eine breite Anwendung des UDL diklusiv.
Fazit
Das UDL diklusiv zielt zum einen auf die Erweiterung des Methodenspektrums zum Einsatz digitaler Medien im Unterricht, ist aber zugleich eine Beschreibung von Unterstützungsmöglichkeiten. Zudem bietet es Möglichkeiten für die Unterrichts- und Schulentwicklung, da auch weiterhin neue, innovative Technologien ihren Weg in die Schule finden werden und ihren Beitrag zur Bildungsgerechtigkeit leisten können. Dass es notwendig ist, diese aufzugreifen, zeigen verschiedene Studien zur Nutzungsforschung (u.a. ICILS, Eickelmann et al., 2019), da der Umgang mit digitalen Medien für Kinder und Jugendlich Normalität und Teil der Lebenswirklichkeit geworden ist. Schule kann und darf diese Aspekte nicht ignorieren, da ihr Auftrag auch darin besteht, Schüler:innen zu befähigen, selbstständig und gestaltend an der Gesellschaft teilzunehmen, die sich zunehmend mediatisiert und digitalisiert präsentiert. Nichtsdestotrotz ist eine gute digital-inklusive Didaktik (und damit auch der Einsatz des UDL diklusiv) in starkem Maße abhängig von der Lehrkraft sowie deren Unterrichtsplanung, -evaluation und -anpassung. Wird dies berücksichtigt, bietet das vorgestellte Konzept eine Rahmung, um digitale Medien im Unterricht einzusetzen – nicht als Mittel zum Zweck, sondern als sinnvolle Erweiterung zu bereits erprobten Möglichkeiten.
Literatur
Böttinger, T. & Schulz, L. (2021, i.Vorb.). Diklusiv Lernhilfen – Digital-inklusiver Unterricht im Rahmen des Universal Design for Learning. Eingereicht bei Zeitschrift für Heilpädagogik.
CAST – Center for Applied Special Technology (2018). Universal Design for Learning Guidelines, Version 2.2. Online verfügbar unter https://udlguidelines.cast.org/ (03.06.2021)
Eickelmann, B., Bos, W., Gerick, J., Goldhammer, F., Schaumburg, H., Schwippert, K., Senkbeil, M. & Vahrenhold, G. (Hrsg.) (2019): ICILS 2018 #Deutschland – Computer- und informationsbezogene Kompetenzen von Schülerinnen und Schülern im zweiten internationalen Vergleich und Kompetenzen im Bereich Computational Thinking. Münster: Waxmann.
Hall, T., Meyer, A., Rose, D. H. (2012). An Introduction to Universal Design for Learning. Questions and Answers. In T. Hall, A. Meyer & D. Rose (Hrsg.), Universal Design for Learning in the Classroom. Practical Applications (S.1-8). New York: The Guilford Press.
Petko, D. (2010). Lernplattformen, E-Learning und Blended Learning in Schulen. In D. Petko (Hrsg.), Lernplattformen in Schulen. Ansätze für E-Learning und Blended Learning in Präsenzklassen (S. 9-27). Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften.
Pilgrim, J. & Ward, A.K. (2017). Universal Design for Learning: A Framework for Supporting Effective Literacy Instruction. In C.M. Curran & A.J. Petersen (Hrsg.), Handbook of Research on Classroom Diversity and Inclusive Education Practice (S.282-310). Hershey: IGI Global.
Schulz, L. (2018). Digitale Medien im Bereich Inklusion. In B. Lütje-Klose, T. Riecke-Baulecke & R. Werning (Hrsg.), Basiswissen Lehrerbildung: Inklusion in Schule und Unterricht. Grundlagen in der Sonderpädagogik (S.344-367). Seelze: Klett/Kallmeyer.
Zitationsvorschlag
Böttinger, T. & Schulz, L. (2021). Digitale Barrieren abbauen – Das diklusive Universal Design for Learning. Online verfügbar unter http://diklusion.com/udl-diklusiv/